Anarchist Solidarity ist ein Zusammenhang aus Hamburger anarchistischen und antifaschistischen Gruppen plus Einzelpersonen, die sich zusammengeschlossen haben um vor dem russischen Angriffskrieg Geflüchtete aus Polen nach Hamburg zu bringen. Auf der ersten Tour konnten wir 110 Erwachsene und acht Kinder abholen.
Warschau (1)
Unsere zweite Fahrt. Die erste ist gerade mal drei Tage her, ging nach Wahrschau. Es ließe sich 24/7 zwischen Hamburg und Polen hin und her pendeln, so beschissen ist die Situation und nur Narren würden daran zweifeln, dass sich das absehbar ändern wird. Allein die zynischen Lügen mit den „humanistischen Korridoren“ von ukrainischen Städten zur polnischen Grenze, die entweder gar nicht erst eröffnet oder von den Russen perforiert werden, lässt null Gutes erwarten.
Wir sind mit drei Reisebussen, zwei Bullis und einem Kombi nach Wahrschau gefahren und einem Team aus ausreichend Fahrer*innen, einer Krankenschwester, Leuten für die Organisation, einem Arzt und Dolmetscher *innen. Der eine Bus blieb liegen, dafür schloss sich ein dritter Bulli aus einer anderen Stadt an.
Wir wussten, dass es eine Kirche in Wahrschau gibt, die geflüchtete PoCs aufnimmt. So richtig eine Kirche war es dann nicht, eher ein Stockwerk in einem Mehrzweckbau. Und was das überhaupt genau für eine Kirche war, möchte ich nicht unbedingt wissen. Egal, sie haben ihre Räumlichkeiten aufgemacht, hatten große Räume, WCs, und eine Küche und waren ansonsten kaum zu sehen. Überall Menschen, kaputt
vom Chaos und den tagelangen Wartezeiten an der Grenze. In einem großen Raum ohne Fenster schlafen viele das erste Mal seit Tagen, die anderen hängen an den Steckdosen um ihre Handys wieder vollzubekommen. Eine düstere Wolke aus Erschöpfung und Angst wabert durch das gesamte Stockwerk.
Die zwei Bullis fahren weiter zur Grenze um auch von dort Leute abzuholen. Wir nehmen die Leute aus der Kirche und fahren nachts noch mal zum Hauptbahnhof um auch von dort Menschen mitzunehmen. Dort bekommen wir einen homöopatischen Eindruck davon, was Krieg noch Hunderte Kilometern hinter der Front bedeutet: Chaos. Der Hauptbahnhof in der Größe eines normalen Großstadthauptbahnhofes ist gepackt mit Menschen, überall liegen Leute die schlafen, vielleicht sind sie auch einfach zusammengebrochen. Bei McDonalds weinende Frauen neben nur noch apathisch vor sich hinstarrenden Männern. Auf einem Treppenabsatz sitzen Eltern, die nachts um eins mit ihren Kindern Karten spielen, um irgendwie ein Fragment von dem was mal Normalität war, aufrecht zu erhalten. Albtraum.
Mittendrin stürmen noch Bullen rein, die unbedingt einem Stadtbus den Stellplatz freiprügeln wollen. Dummer, brutaler Abschaum. Wenn Kartenspielen für Kinder ein Fragment von Normalität, ist das Verprügeln von Geflüchteten für Bullen die Steigerung ihrer Normalität. Statt Säufer und Junkies verprügeln mal Leute die ihrem normalen Leben entrissen worden sind, den Knüppel schmecken lassen. Zuhause ein Bett, youporn auf dem PC, Bier im Kühlschrank, eine Uniform, eine Schusswaffe und ein Knüppel; für Schläger in Uniform kann das Leben kaum schöner sein. Ein unverhoffter Workshop mit großem Praxisteil für autoritäre Charaktere.
Wir sitzen in einem Auto vor dem Bahnhof als eine am Rad drehende örtliche Unterstützerin eine von uns anschreit. Ungefragt klar, dass die Minimum über 24 Stunden im Einsatz ist und sonderlich viele Ehrenamtliche haben wir nicht gesehen. Die Nerven der paar lokalen Unterstützer*innen liegen blank, wenn die Kommunikation untereinander löchrig ist, sind die Lunten kurz und der Baum brennt.
Kurz danach reißt ein Genosse die Autotür auf, schiebt uns aus der Karre und zwei Geflüchtete rein. Internationales Polizei Standardrepertoire: Pässe kontrollieren und warten was da kommt. Wenn es da keinen oder den falschen Pass gibt, klappt sich ein bunter Strauß von Möglichkeiten für die weitere Vorgehensweise auf; einknasten, abschieben, verprügeln, an die Front schicken. Ob die beiden Papiere hatten, weiß ich nicht. Was sie auf jeden Fall hatten war die falsche Hautfarbe. PoC haben bekannter Weise in den meisten Ländern der Welt nicht die besten Karten – in einem weißen, christlichen Land im Krieg haben sie die Premium Arschkarte. Sie werden nicht nur von Bullen und Grenzern aus den Bussen und Bahnen mit den Geflüchteten gedrängt, sie stehen in den Schlangen – wofür auch immer, ganz hinten und in den Mitten der Gesellschaften der Aufnahmeländer kommen Mütter mit Kindern immer besser an.
Unser Ziel war es deshalb möglichst viele PoC zu holen und in der Kirche und am Bahnhof waren viele gestrandet. Meist Austauschstudenten, teils mit Papieren, teils ohne. So oder so waren die zwei Reisebusse voll. Die zwei Bullis waren zu Grenze gefahren um da Leute abzuholen und später nachzukommen, auf der Hinfahrt war ja noch ein dritter dazugekommen. Wir fahren in der Nacht los und je näher wir der polnisch-deutschen Grenze kommen, desto dringender die Notwendigkeit sich etwas zu überlegen wie über die Grenze zu fahren. Sitzen wir doch in zwei Bussen mit Geflüchteten, die mit, den falschen (= nicht Ukrainischen), oder gar keinen Papieren in der Tasche reisen, ganz zu schweigen von der Hautfarbe der Passagiere, die jeden Grenzer gleich dreimal ätzender als ohnehin werden lässt. Nun, das waren unsere Auswahlmöglichkeiten für eine möglichst unbelästigte Grenzüberquerung:
- Die Busse mit zeitlichem Abstand über die Grenze fahren lassen. Möglicher Vorteil, irgendwie unauffälliger auszusehen, wie ein Reisebus auf einer Städtetour oder so. Nachteil, dass sie sie einen Bus leichter aufstoppen und durchsuchen könnten als zwei Busse.
- Mit beiden Bussen und den zwei Vorausautos als Konvoy. Vorteil: Wenn sie uns anhalten lässt sich mit zwei Bussen mehr Ärger machen. Nachteil, wenn Uniformierte in die Busse gehen würden, wären die Kinder nochmal mehr traumatisiert als sie es ohnehin schon waren.
Die begleitenden Autos fuhren schließlich vorab, gefolgt von den zwei Bussen in zeitlichem Abstand von 10 Minuten und es lief glatt. Die Grenze war nicht mal zu sehen, irgendwann waren wir halt in Deutschland. Gutes Gefühl.
Ab dem Morgengrauen sickerten schlechte Nachrichten aus den Telefonen. Eine afrikanische Kirche, die vollmundig angekündigt hatte alle unsere Passagiere aufzunehmen zog zurück und wollte jetzt nur noch 30 aufnehmen, irgendein Sozialraum war plötzlich ganz raus, zudem gab es keinen Ankunftsplatz mehr. Wenn uns nicht schnell Alternativen einfallen würden, ständen wir am Hauptbahnhof und müssten die Geflüchteten irgendwo hinschicken.
Es fiel nichts besseres ein, als die üblichen zehn Minuten abkotzen und dann Plan B zu organisieren. Was klappte, ein Fußballverein öffnete sein Clubheim und stellte sogar Getränke und ein Chili auf die Tische. Die Verteilung der Menschen lief auch. Eine größere Gruppe fuhr zusammen nach Berlin, andere einzeln in andere Städte, wieder andere hatten Familie oder Bekannte in Hamburg. Die wurden von ihren Leuten abgeholt oder per Shuttle von uns hingebracht. Nur wenige hatten keinen Platz und auch die waren schnell verteilt.
Wie es weitergehen wird, wir wissen es nicht. Wie auch? Wovon sicher auszugehen ist, ist dass dieser Krieg – wie jeder andere auch, Millionen Menschen in die Flucht treiben wird. Die Möglichkeiten unsere Solidarität mit den Menschen und unseren Hass auf Krieg zu zeigen sind viele, wir müssen es angehen.
Solidarische Grüße an das Resistance Committe!
A.L.E.