10. Juni 2016 /
Die politische, wirtschaftliche und soziale Krise in Frankreich verschärfte sich in den letzten Jahren kontinuierlich. Von dieser prekären Situation besonders betroffen ist die Jugend, bei der die Arbeitslosenquote rund 25% beträgt. In den Randgebieten der Städte, wo meist sozial schwache Familien wohnen, liegt die Jugendarbeitslosenquote sogar bei bis zu unglaublichen 70%. Gerade die Vororte waren immer wieder Brennpunkte von sozialen Protesten und Krawallen, die meist von der verhassten Polizei gnadenlos niedergeschlagen wurden. Spätestens seit den Anschlägen von Daesh (Islamischer Staat) im November 2015 hat sich in Frankreich ein autoritärer Polizeistaat etabliert. Als Anfang 2016 die sozialistische Regierung folgenschwere Reformen im Arbeitsgesetz ankündigte, formierten sich verschiedene Protestbewegungen, die ihren Unmut auf die Strasse trugen.
Arbeitsmarktreform – um was geht es?
Abschaffung der 35-Stunden-Woche, Lockerungen im Kündigungsschutz und Erweiterungen der Arbeitszeit waren die zentralen Elemente der Arbeitsmarktreformen. Doch aufgrund der massiven Proteste, ist die Regierung mittlerweile davon zurückgewichen die 35-Stunden-Woche abzuschaffen. Die verbliebenen Reformvorschläge bedeuten jedoch weiterhin eine Verschärfung der bereits prekären Arbeitssituation und helfen den Unternehmen noch ausbeuterfreundlicher zu wirtschaften. Zudem soll es den Unternehmen in Zukunft möglich sein, die Wochenarbeitszeit von 44 Stunden von bisher 12 auf 16 Wochen zu erhöhen. Überstunden sollen trotz Tarifverträgen nur noch mit einem Zuschlag von 10% statt den bisherigen 25% entlohnt werden. Im Klartext bedeutet dies, mehr Arbeiten für weniger Geld. Auch Bereitschaftszeiten werden nicht mehr vergütet. Dies bedeutet, dass Angestellte ohne Entlohnung auf Abruf bereitstehen müssen. Besonders folgenreich sind die Veränderungen im Kündigungsschutz. So soll es neu den Unternehmen möglich sein, Arbeiter*innen zu entlassen, wenn der Betrieb keine Gewinne erzielt. Dabei werden diese Veränderungen perfiderweise als arbeiterfreundlich verkauft. Laut der Logik der Unternehmen kommt es der Arbeiterschaft zu gute, wenn Menschen schnell entlassen werden können – schliesslich können so auch schneller Anstellungen getätigt werden.
Die Rolle der Jugend in den Protesten
Gerade die Jugend machte von Anfang an mobil gegen die Reformen. In zahlreichen Communiqués wurde darauf aufmerksam gemacht, dass die Arbeitsmarktreformen nur der Anfang einer ökonomischen und neoliberalen Umwälzung darstellen. Falls die Reformen nicht verhindert werden können, drohen in Zukunft noch mehr Veränderungen, die die soziale Situation in Frankreich weiterverschärfen werden.
So war es die Jugend, die von Anfang an den Protest auf die Strasse trug und als Motor der Bewegung angesehen werden kann. Die «antagonistische (widerständische) Jugend», wie sie fortan genannt wurde, schaffte es Student*innen, Schüler*innen, Migrant*innen, Arbeitslose und Menschen aus allen Gesellschaftsschichten zu mobilisieren. Der Staat antwortete schon in den ersten Wochen mit massiver Polizeigewalt. Wieder war es die Jugend, sich die auf die Angriffe vorbereitete und sich diesen entgegenstellte. Besonders erwähnenswert ist, dass es die antagonistische Bewegung es geschafft hat landesweit und flächendeckend Aktionen zu organisieren. So wurden beispielsweise in koordinierten Handlungen Universitäten und Schulen besetzt oder Verkehrsknotenpunkte blockiert. Hinzu kommt der Umstand, dass seit Anfang März jede Woche mindestens eine Demonstration veranstaltet wurde, die nicht selten von der Polizei angegriffen wurde, was eine enorme Entschlossenheit und grosses Durchhaltevermögen zeigt.
Konflikt zwischen der antagonistischen Jugend und der Gewerkschaft CGT
Erst mit der Zeit riefen auch Gewerkschaften ihre Basis zu eigenen Demonstrationen auf, die teilweise landesweit Hunderttausende mobilisieren konnten. Während die CGT und andere meistens am Nachmittag auf die Strasse gingen, fing die antagonistische Bewegung schon am Morgen mit Aktionen und Demonstrationen an. So etablierte sich der Umstand, dass eine Vordemonstration der antagonistischen Jugend zum Auftaktort der Gewerkschaftsdemonstration lief und sich anschliessend an die Spitze des CGT-Umzugs stellte.
Obwohl ein grosser Teil der Gewerkschaftsbasis mit der antagonistischen Jugend sympathisierte, sah die Gewerkschaftsführungen (vor allem die CGT) ihre Führungsrolle im Protest als gefährdet an. Anfänglich kam es zu verbalen Auseinandersetzungen zwischen Kadern/Ordnern der Gewerkschaft und des antagonistischen Blockes. Diese verschärfte sich jedoch Ende März, als Gewerkschaftsordner Schüler*innen und Student*innen den Weg zur Demonstration versperren wollten. Die Jugend konnte sich jedoch ihren ihren Platz an der Demonstrationsspitze erkämpfen und prägte bis Mitte Mai das Bild der Gewerkschaftsdemonstrationen.
Wiederholt gab es Berichte darüber, dass die Kader der CGT Absprachen mit der verhassten Polizei getroffen hätten. Diese Vermutungen und Anschuldigen verdeutlichen sich Mitte Mai, als rund 200 bewaffnete Ordner der CGT in Paris den antagonistischen Block mit Schlagstöcken und Pefferspray angriffen. Als der Block zurückschlug, flüchtete der Ordnungsdienst in Richtung der Polizei. Diese setzte umgehend Tränengas gegen die Jugendlichen ein. Rund eine Woche später griffen behelmte und bewaffnete Ordner der CGT in offener Zusammenarbeit mit der Polizei erneut eine Abschlusskundgebung in Paris an.
Die politische Bedeutung der Reformen für den Staat
Die angekündigten Arbeitsmarktreformen offenbaren eine mögliche Strategie der Staaten in der Krise. Während die Schere zwischen Arm und Reich weiterwächst, verschärfen sich auch die sozialen Verhältnisse. Damit Unternehmen weiter Gewinne erzielen können, werden die wenigen erkämpften Rechte der Arbeiter*innenbewegung rückgängig gemacht. Dies dient dem Zweck, dem Markt auch in der Krise Zugang zu billigen Arbeitnehmer*innen zu ermöglichen und die Krise auf die Unterdrückten, in prekären Verhältnissen Lebenden oder Lohnarbeiter*innen abzuwälzen. Gleichzeitig übernimmt der Staat die Aufgabe der Aufstandsbekämpfung. Frankreich ist seit Monaten defacto ein gut ausgebauter und autoritärer Polizeistaat. Des Weiteren wird eine Militarisierung der Gesellschaft vorangetrieben. So werden nach alter imperialistischer Manier Auslandseinsätze wie beispielsweise in Syrien geführt, die von innenpolitischen Spannungen ablenken sollen, während zeitgleich bewaffnete Militärs in Frankreichs Strassen patrouillieren.
Dass sich ausgerechnet jetzt eine breite soziale Bewegung gegen die sozialistische Regierung formiert, kommt dem Staat sichtlich ungelegen. So überrascht es nicht, dass Demonstrationen konstant mit äusserster Brutalität von der Polizei angegriffen werden. Hinzu kommen auf dem Notstand gestützte Hausdurchsuchungen, die zum Ziel haben ein Exempel an Einzelnen zu statuieren. Zudem offenbart sich wieder einmal, dass gelobte Rechte wie z.B. Presse- oder Meinungsfreiheit lediglich Herrschaftsinstrumente sind, die ein demokratischer Staat in unruhigen Zeiten ohne Probleme jederzeit entziehen kann.
Perspektiven der Bewegung
Anarchistische Ideen sind wieder ein Begriff in Frankreich. Vor allem die antagonistische Jugend hat sich in ihren Communiqués oder Aktionen auf anarchistische Grundsätze bezogen und entwickelte einen revolutionären Anspruch. Die Kritik richtet sich u.a. gegen Kapitalismus, Staat und Autorität. Des Weiteren hat es die Jugend geschafft, der Bewegung einen offensiven Charakter zu erkämpfen. Sie geniesst ohne Zweifel eine grosse Sympathie innerhalb der Protestbewegung.
Es ist stark zu bezweifeln, ob es zu den selben Streiks und Blockaden der Arbeiter*innen gekommen wäre, wenn die Jugend davor nicht Woche für Woche auf die Strasse gegangen wäre und sich gegen die Polizei behaupten hätte.
Die antagonistische Jugend muss jedoch auf ihrem selbsternannten Weg zur Revolution mit zahlreichen Hindernissen kämpfen. Ihre eigenen Demonstrationen konnten nicht die gleiche Masse auf die Strasse bringen, wie die der Gewerkschaften. Ohne die Kombination zwischen kampfbereiter Jugend und der Masse der Gewerkschaftsbasis, wäre die aktuelle kämpferische Dynamik wohl gar nicht erst entstanden.
Die Gewerkschaftsführung verfolgt jedoch eigene Ziele und will den Protest anführen, sowie kontrollieren. Damit will sie ihre Rolle als verlässlicher Verhandlungspartner für den Staat festigen und nicht die Reformen als solches abzulehnen. Bereits mögliche Anpassung einzelner Reformen kann bei der Basis als achtenswerter Erfolg verkauft werden. Besonders kritisch wird es somit, wenn die Gewerkschaften mit der Regierung Verhandlungen aufnehmen und den Protest auf der Strasse zurückziehen.
Die antagonistische Jugend steht also vor der Herausforderung die Kämpfe weiterzutragen und breitere soziale Brennpunkte anzusprechen. Unabhängig wie sich die Situation weiterentwickeln wird (stand Anfang Juni 2016), kann zum jetzigen Zeitpunkt gesagt werden, dass in Frankreich eine breite soziale Bewegung entstanden ist, die es durch Streik, Blockaden, Demonstrationen, Platzbesetzungen und militanten Aktionen geschafft hat, über eine konstante Zeit eine grosse Anzahl von Menschen zu mobilisieren. In Anbetracht der Tatsache, dass in Europa revolutionäre Bewegung grosse Mühe haben eigene politische Akzente auf die Strasse zu tragen, ist der entstandene Protest in Frankreich bemerkenswert.