Aufarbeitungstext zum gruppeninternen Prozess

25. Oktober 2022 / TW: Ableismus, Xenophobie, Mobbing, Suizidalität, Rassismus, Sexismus

Einleitung
Seit ungefähr einem Jahr befinden wir uns in einem Aufarbeitungsprozess, der auch nach der Veröffentlichung dieses Textes weitergehen wird. Konkret geht es um Ableismus, Mobbing, Xenophobie, Rassismus und Sexismus. Nebst der internen Aufarbeitung der Geschehnisse, ist es uns wichtig, dass wir unsere Erfahrungen, Entscheidungen und unsere politische Reflexion nach aussen kommunizieren. Damit wollen wir zeigen, dass interne Auseinandersetzungen und Prozesse in allen Zusammenhängen vorkommen können und diese notwendig sind, um aus den eigenen Fehlern lernen zu können.

Diskriminierende Verhaltensmuster spitzen sich mit der Zeit zu schwerwiegenden Vorfällen oder Übergriffen zu. Meistens sind es diese Vorfälle oder Übergriffe, welche das Umfeld – aber leider oft zu spät für die Betroffenen – das Ausmass der Diskriminierung erkennen lässt. In politischen Strukturen wird oft ein Safer-Space erwartet. Umso stärkere Auswirkungen haben in eben diesen Strukturen diskriminierende Taten. Der Weg dahin wurde in unserem Fall durch Schweigen, Wegsehen, Angst vor sozialen Konsequenzen, Hierarchien oder das Abschieben auf persönliche und/oder zwischenmenschliche Spannungen ermöglicht. Organisiert zu sein heisst für uns Verantwortlichkeiten herzustellen. Ein kollektives Versagen erfordert für die Aufarbeitung somit einen kollektiven Prozess.

Eine Aufarbeitung bedeutet keinen Neuanfang. Für Betroffene entstanden durch die Diskriminierungserfahrungen zahlreiche Trigger und viele Momente werden nachwirken. Für Individuen mit ähnlichen Erfahrungen kann es die eigenen Erlebnisse erneut aufleben lassen. Auf einer kollektiven Ebene gilt es einen Umgang mit Triggern zu finden und Betroffenen Möglichkeiten zur Unterstützung zu öffnen, sowie aktiv zu zuhören. All diese Ebenen haben Entwicklungen, Aspekte, Gefühle oder Haltungen ausgelöst, verändert oder neu entstehen lassen.

Was können reale Konsequenzen für Betroffene sein? In unserem Fall haben verschiedene Diskriminierungsformen auch unterschiedliche Folgen. Betroffene Personen mieden Orte, um nicht auf Tatpersonen zu treffen. Schweissausbrüche bei Personen, die den Tatpersonen ähnlich sahen. Psychische Auswirkungen, die von sozialer Isolation bis hin zu suizidalen Gedanken gingen. Dies ist nur ein kleiner Einblick in die Perspektive der Betroffenen, denn die Liste liesse sich weiter fortführen. Oft geht es bei Aufarbeitungsanalysen vergessen, was Betroffene durchmachen müssen.

Soziale und politische Hierarchien existieren auch in unserer Gruppe, schliesslich sind wir in diesem System aufgewachsen und wurden entsprechend sozialisiert. Dessen sind wir uns bewusst und versuchen aus einer anarchistischen Position heraus, verschiedene Hierarchien zu erkennen, zu thematisieren und vor allem zu überwinden. In diesem Fall sind wir jedoch der Auffassung, dass einige Hierarchien bewusst ausgenutzt wurden, um diskriminierendes Verhalten durchzusetzen. Insbesondere die soziale Hierarchie wurde eingesetzt, um Abhängigkeitsverhältnisse zu schaffen. Zusammenhalt ist wichtig, um uns gegenseitig zu stärken z.B. bei Repression. Loyalität dafür auszunutzen, um Kritik verstummen zu lassen, ist jedoch alles andere als emanzipatorisch.

Wir versuchen Kritik und Selbstkritik als etwas Positives zu sehen. Kritik ermöglicht es uns zu lernen, zu reflektieren und daran zu wachsen. In unserem Fall wurde jedoch übermässig vermeintliche Kritik an betroffenen Einzelpersonen angewendet, um von eigenen Kritikpunkten abzulenken und damit die eigene Machtposition zu stärken, wobei eine gewisse «Fehlerfreiheit» manifestiert wird. Dadurch entstand ein Klima, in der Kritik genau die Form annahm, die wir gesellschaftlich kennen. Nämlich Kritik als etwas Negatives, dass persönlich ist und die Kritisierten sich in der Rolle wiederfinden, dass sie etwas falsch machen würden oder einfach nicht “gut genug” sind z.B. für den politischen Aktivismus.

Eine reflektierte Sprache reicht nicht aus, um diskriminierungsarm zu sein. Auch in unserem Fall sorgte eine vermeintlich bedachte und sensibilisierte Sprache dafür, dass die diskriminierenden Taten nach Aussen abgeschwächter wirkten. Diskriminierungen und Mobbing wurden rhetorisch als «Kritik» verpackt. Aware zu sein, sollte auch heissen, hinter die zahlreichen Szenecodes und Begriffe zu sehen. Für Betroffene, die beispielsweise sprachliche oder akademische Barrieren haben oder weniger laut sind, war es so sehr schwierig darauf zu reagieren oder sich zu wehren.

Der grösste Faktor war letztendlich das kollektive Nichtstun. Das Schweigen oder Wegsehen hat die Diskriminierungen nicht nur verstärkt, sondern massiv verschlimmert. Im Laufe des Prozesses haben wir zahlreiche Gründe für das Schweigen gefunden – manchmal waren es fehlende Erfahrungen, manchmal auch fehlendes Wissen oder manchmal das “Wie” darüber reden. Klar wurde uns am Ende vor allem eines: Nichts zu tun war und ist immer die schlechteste Variante. Sobald Dinge angesprochen wurden, kamen sehr schnell viele Prozesse in Gang.

Der gesamte Prozess gestaltete sich schwierig. Bei uns gab es theoretische Vorstellungen – auch aus anderen Kontexten – wie Prozesse funktionieren können. In der Praxis ist nicht jeder Prozess gleich und kann auch nicht gleich angegangen werden. Somit mussten Abläufe und Mechanismen neu oder wieder geschaffen werden. Trotz der Schwierigkeiten konnten wir einiges aufarbeiten und uns als Gruppe wieder finden. Tatperson(en) sind nicht mehr aktiv bei uns, wir sind auf dem Weg dazu eine Ebene zu kreieren, wo wir Dinge ansprechen können und versuchen dies im weiterführenden Prozess zu festigen.

Viele grössere oder langjährige Gruppen aus dem deutschsprachigen Raum haben in den vergangenen Monaten ihre Auflösung bekannt gegeben. Nicht selten wurde der Mangel an geführten politischen Prozessen, zu wenigen internen Auseinandersetzungen, Negierung von Diskriminierungen (wie z.B. Sexismus, Rassismus, Ableismus etc.) oder fehlende Self-Care genannt. Umso wichtiger erscheint es uns, dass wir politischen Prozessen nicht aus dem Weg gehen, sondern für die Betroffenen und uns auch konsequent führen.

Im Folgenden führen wir Überlegungen und Fragen auf, die im Verlaufe aufgetaucht sind und wir teilweise weiterbearbeiten wollen.
• Menschen können sich auf sehr unterschiedliche Weise äussern. Was sind geeignete Formen, um über Dinge zu reden z.B. mündlich oder schriftlich?
• Hierarchien können auf verschiedene Arten (Sozial, politisch, strukturell) existieren und diese gilt es zu erkennen.
• Tatpersonen müssen nicht immer weiss, cis und männlich sein. Die Taten von Tatpersonen, die dem nicht entsprechen sind nicht weniger schwerwiegend.
• Es gibt keine neutralen Positionen. Eine vermeintlich neutrale Position stellt sich immer gegen die Positionen der Betroffenen.
• Probleme/Diskriminierungen/Auseinandersetzungen auf eine private Ebene zu schieben, ist gefährlich. Es negiert die strukturellen Mechanismen dahinter.
• Wann ist ein Prozess abgeschlossen? Oftmals gibt es ein kollektives Ende z.B. durch einen Text, für Betroffene wirkt ein Prozess jedoch nach.
• Heisst ein Prozess für die Betroffenen und die Unterstützenden die Einstellung der politischen Aktivitäten? Welchen Stellenwert haben Prozesse und politische Handlungsfähigkeit? Ist Aktivismus in dem Moment hilfreich oder eher überfordernd und braucht es eine „aktivistische“ Pause?
• Welche kollektiven Mechanismen können wir entwickeln, um gemachte Fehler zukünftig besser zu erkennen, anzusprechen und anzugehen?